Chronik des Widerstands
10. März 1959: In Tibets Hauptstadt Lhasa erhebt sich die Bevölkerung gegen das chinesische Militär.17. März: Flucht des 14. Dalai Lama nach Indien, wo er am 30. März ankommt.
28. März: Nach der Niederschlagung des Volksaufstands werden alle tibetischen Regierungseinrichtungen aufgelöst. China erklärt diesen Tag im Januar 2009 zum Feiertag zur "Befreiung von der Leibeigenschaft".
10. März 1963: Verkündung einer provisorischen tibetischen Verfassung durch den Dalai Lama im indischen Exil.
9. September 1965: Peking erklärt Tibet zur Autonomen Region, die knapp 60 Prozent der traditionellen tibetischen Siedlungsgebiete umfasst.
1966-1976: "Große Proletarische Kulturrevolution", in deren Verlauf fast alle tibetischen Klöster und Tempel zerstört werden.
1972: Nach dem Peking-Besuch von US-Präsident Richard Nixon, der eine Normalisierung im Verhältnis Washingtons zu Peking einläutet, beendet der US-Geheimdienst CIA seine spätestens 1956 begonnene Ausbildung tibetischer Guerillakämpfer.
Ab 1979: Beginn der Liberalisierung in China und Tibet und erste Treffen zwischen Vertretern des Dalai Lama und der Regierung in Peking.
1985: Öffnung Tibets für den Massentourismus.
Oktober 1987: Unruhen in Lhasa und Shigatse.
März 1988: Neue Unruhen in Tibet mit mindestens 30 Toten.
15. Juni: Kurswechsel des Dalai Lama, der sich jetzt bereit erklärt, Chinas Oberhoheit über Tibet anzuerkennen.
März 1989: Unruhen in Lhasa anlässlich des 30. Jahrestags des Volksaufstandes und Verhängung des Kriegsrechts (bis April 1990) durch den damaligen KP-Provinzchef und heutigen chinesischen Staatspräsidenten Hu Jintao.
10. Dezember: Dalai Lama erhält den Friedensnobelpreis.
1995: Peking und der Dalai Lama bestimmen konkurrierende Reinkarnationen des Panchen Lama.
1996: Verbot von Dalai-Lama-Bildern in der tibetischen Öffentlichkeit.
Januar 2000: Flucht des 17. Karmapa Lama nach Indien.
14. März 2008: Antichinesische Unruhen in Tibet mit offiziell 19 Toten. Zuvor wurden Proteste von Mönchen zum Jahrestag des Volksaufstandes gewaltsam unterdrückt. Seitdem herrscht eine verschärfte Repression, begleitet von einer zeitweisen Aussetzung des Tourismus.
November: Fünfhundert tibetische Exilvertreter sprechen sich in Dharamsala mehrheitlich für die Beibehaltung des gemäßigten "Mittleren Weges" des Dalai Lama gegenüber Peking aus. HAN |
Ciren und Duojie sind sich unsicher, was am heutigen Tag geschehen wird. In Gannan sei die Lage so gespannt, dass er nicht mehr wage, dort anzurufen, berichtet Duojie. Ciren hat vor wenigen Tagen das tibetische Neujahr bei seinen Eltern in einem tibetischen Kreis der Provinz Sichuan gefeiert. Er erzählt, dass seine Familie und die Nachbarn nicht wagten, an den üblichen buddhistischen Zeremonien während der Feiertage teilzunehmen. Nicht aus Protest, wie es die tibetische Exilbewegung gerne sehen will, weil die Zeremonien offiziell abgesegnet waren. Sondern ganz einfach, weil man den Verhältnissen nicht traut. Überall in den tibetischen Siedlungsgebieten sei die Präsenz der chinesischen Sicherheitskräfte unübersehbar und wirke auf die tibetische Bevölkerung einschüchternd, stimmen Ciren und Duojie überein. "Sie fragen nach Pässen, sie patrouillieren mit ihren Militärfahrzeugen in den Hauptstraßen, sie machen Manöverübungen. Sie sind höflich. Man kann nicht sagen, dass sie die Leute konkret belästigen. Aber alle denken, dass sie da sind, um uns zu unterdrücken", sagt Ciren.
Noch vor einem Jahr hätten sich die beiden nicht vorstellen können, dass die Lage so eskaliert. Damals waren am 10. März die Mönche der großen Klöster in Lhasa, der Hauptstadt der Autonomen Region Tibet, auf die Straße gegangen. Ihr Protest war mit der Exilbewegung abgestimmt, es sollte die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit im chinesischen Olympia-Jahr genutzt werden. Ciren und Duojie sympathisierten. Als die chinesische Sicherheitskräfte die Mönche zurück in ihre Klöster drängten und von der Öffentlichkeit abriegelten, organisierten die tibetischen Studenten an der Minderheitenuniversität von Lanzhou eine öffentliche Mahnwache. Ciren war mit dabei.
Dann kam der 14. März, der Aufstand von Lhasa. Wer ihn entfachte, darüber wird bis heute gestritten. Augenzeugen berichteten damals der taz, dass radikale tibetische Studenten den gewalttätigen Protest im alten Tempelbezirk von Lhasa anzettelten. Von der Exilbewegung aber wird bis heute behauptet, dass es chinesische Agenten waren, die sich als Mönche verkleidet hatten, wodurch das Verhängnis seinen Lauf nahm. Denn der Protest eskalierte an diesem Tag zur antichinesischen Gewaltorgie, bei dem 19 Chinesen starben und der Großteil der chinesischen Geschäfte in Lhasa verwüstet wurde. Bis heute dient nun der 14. März Peking zur Rechtfertigung sämtlicher Repressionsmaßnahmen in den tibetischen Gebieten.
Anfänglich behauptete die Exilbewegung, dass am 14. März auch viele Tibeter ums Leben gekommen waren. Das bestätigte sich nicht. Doch geht die Bewegung inzwischen davon aus, dass im Zuge der chinesischen Gegenmaßnahmen in den letzten zwölf Monaten 220 Tibeter getötet, 1.300 verletzt und 7.000 zeitweise verhaftet wurden. Überprüfbar sind diese Angaben genauso wenig wie vor einem Jahr, als sie falsch waren. China bestreitet sie rundherum. Offiziell wurde lediglich bestätigt, dass nach dem Aufstand im letzten Jahr in Lhasa 953 Tibeter festgenommen, von ihnen 76 verurteilt und die übrigen wieder freigelassen wurden.
Doch wie hoch auch immer die Opferzahlen sein mögen - es gibt keinen Zweifel an der seit einem Jahr völlig veränderten Lage in den tibetischen Gebieten. "Vor den Ereignissen im letzten März ließen uns die Chinesen in Ruhe. Sie investierten sogar in Tibet", erinnert sich Ciren. Er berichtet, wie wichtig in dieser Zeit der chinesische und ausländische Tourismus als Einkommen für viele Tibeter geworden wäre. Alles was die Chinesen heute in Tibet machten, diene nur noch ihren Sicherheitsinteressen.
Für die in Peking lebende, international bekannte tibetische Autorin Woeser hat sich damit der wahre Charakter der chinesisch-tibetische Beziehungen enthüllt: "Das Tibet-Ereignis hat den Schleier enthüllt. Früher sahen sich die Tibeter als Günstlinge der Chinesen, aber sie wurden nur wie Haustiere geliebt. Die Wahrheit ist, dass den Tibetern, wenn sie wie Menschen behandelt werden möchten, der Garaus gemacht wird", sagt Woeser. Die Gegenmeinung vertritt der KP-nahe tibetische Anthropologe Gelek: "Dass sich vor manchen Gedenktagen die Beziehungen zwischen Chinesen und Tibetern verschlechtern, ist nur Ausdruck eines politischen Kampfes zwischen dem Dalai Lama und der Pekinger Zentralregierung. Aber im tibetischen Alltag spürt man das nicht. Den meisten Tibetern ist ideologisches Denken fremd. Sie begrüßen die vielen materiellen Verbesserungen der letzten Jahre," sagt Gelek. Für die jungen Tibeter Ciren und Duojie ist es nicht einfach, sich in diesem Streit auf eine Seite zu schlagen. "Der Aufstand im letzten Jahr hat unsere Herzen beruhigt, aber er hat uns im Leben nicht weitergeholfen", sagt Duojie. |