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Die Traurigkeit des Bürgermeisters von Sur
Gula-EvineDatum: Donnerstag, 09.06.2011, 14.49.09 | Nachricht # 1
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Der Sohn eines der populärsten kurdischen Politiker in der Türkei ist in den Bergen bei der PKK. Der Vater versteht ihn, sieht seinen Platz aber trotzdem im Parlament.

Von Michael Martens, Diyarbakir

07. Juni 2011

Den 30. Mai ging Agit in die Berge. Seinem Vater sagte er nichts. Er war einfach verschwunden. Der Vater sagt heute, dass er so etwas geahnt habe. Er habe gefühlt, dass sein jüngster Sohn in die Berge wollte. Das war vor zwei Jahren. Agit war sechzehn damals, ein Kind noch. Er war nicht der erste, den es in die Berge zog, und er war auch nur für wenige Tage der letzte. Viele tausend junge Männer und auch einige junge Frauen aus der Gegend sind in die Berge gegangen in den vergangenen Jahren, und viele sind dort umgekommen.

„Bedauern Sie, dass Ihr Sohn in den Bergen ist? Sind Sie traurig?“ – „Natürlich bin ich traurig. Aber er ging ja nicht zu einem Picknick dorthin, sondern für die Freiheit. Für mich sind alle diese Leute in den Bergen meine Söhne und Töchter. Sie gingen um der Freiheit Willen dorthin. Ich schäme mich nicht deswegen, und ich bedauere es auch nicht. Als Vater bin ich trotzdem traurig, weil ich mir wünsche, dass dies ein Land wird, das niemanden in die Berge treibt.“

ief im Südosten der Türkei, am schmutziggrauen Wasser des Tigris, liegt die Millionenstadt Diyarbakir. Im Zentrum von Diyarbakir befindet sich der Altstadtbezirk Sur. Dort, im zweiten Stock des Gebäudes der Stadtteilverwaltung, links vom Aufzug, hat Abdullah Demirbas sein Büro, der Bürgermeister von Sur. Er ist der Vater, dessen Sohn in die Berge gegangen ist – und der jetzt sagt, dass er seinem Sohn davon abgeraten hätte, in die Berge zu gehen, weil es auch andere Möglichkeiten gebe, für die Rechte der Kurden zu kämpfen.

Der sagt, dass es am 6. Mai 2009 zu einem letzten ernsthaften Gespräch zwischen ihm und dem Sohn gekommen sei. „Am Tag vorher war ich zu zwei Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt worden, weil ich gesagt hatte, dass die Tränen einer türkischen Mutter, deren Sohn als Soldat erschossen wurde, sich nicht von den Tränen einer kurdischen Mutter unterscheiden, deren Sohn als Guerilla starb.“ Das brachte die Justiz gegen ihn auf – wegen Unterstützung des kurdischen Separatismus.

Abdullah Demirbas legte Berufung ein, das Verfahren läuft noch. Am Tag nach dem Urteil sei sein Sohn zu ihm gekommen und habe gesagt: „Das hat man davon, wenn man auf demokratische Weise Politik macht. Dieser Staat und diese Regierung akzeptieren demokratische Regeln nicht. Sie verstehen Politik nur, wenn sie aus Gewehrläufen kommt.“ Natürlich weiß man nicht, ob der Sohn diese Sätze wirklich so gesagt hat. Man weiß auch nicht, ob der Vater dem Sohn tatsächlich widersprach und ihm antwortete, der beste Weg, um für die Rechte der Kurden zu kämpfen, führe über die Politik. Sicher weiß man nur, was sie alle wissen in Sur, die Arbeitslosen in den Teestuben, die Obsthändler, die Lastenträger vom Markt: Der Sohn des Bürgermeisters ist in die Berge gegangen. Er kämpft jetzt bei der PKK.

In die Berge gehen, das bedeutet hier im kurdisch dominierten Südosten der Türkei: Über die Grenze gehen, in den Irak. Dort, in den Kandil-Bergen, haben die Freischärler der sogenannten „Partei der Arbeiter Kurdistans“ (PKK), die nicht nur in der Türkei, sondern auch in der EU und in den Vereinigten Staaten als terroristische Organisation gilt, ihre Schlupfwinkel. Von dort aus stoßen sie, sofern nicht gerade ein Waffenstillstand ausgerufen wurde, auf das Gebiet der Türkei vor, um Konvois oder einsame Außenposten der türkischen Armee zu überfallen. Danach geht die Armee meist zu einem Gegenangriff über. Regelmäßig berichten die türkischen Zeitungen von „Aktionen“ der türkischen Streitkräfte und ihrer Luftwaffe in den Kandil-Bergen. „Bei der jüngsten Aktion in den Kandil-Bergen wurden sieben kurdische Terroristen getötet“ – so oder ähnlich lauten die Meldungen in den Zeitungen.
Der PKK mangelt es nicht an Nachwuchs

In den Bergen schießen junge Männer wie der Sohn von Abdullah Demirbas dann auf andere junge Männer, auch kurdische, die als Rekruten ihren Wehrdienst bei der Armee leisten. Meistens kommen bei solchen Gefechten mehr kurdische Freischärler ums Leben als türkische Soldaten, aber die PKK kann das verkraften. Es mangelt ihr nicht an Nachwuchs. Während im Westen der Türkei die Geburtenrate vielerorts sinkt, sich in einigen Gegenden sogar schon westeuropäischen Tiefständen annähert, sind kinderreiche Familien im kurdischen Südosten noch immer die Regel. Bürgermeister Demirbas hat zwar nur vier Kinder, aber das ist normal, er lebt ja in der Stadt. In den Dörfern sind die Familien größer.

Einmal, sagt Herr Demirbas, wollte sogar die älteste seiner beiden Töchter in die Berge. „Als ich wieder einmal im Gefängnis saß, sagte sie: Du verdienst es nicht, hier zu sein, denn Du hast nichts Schlechtes getan. Du hast für Demokratie gekämpft.“ Voller Zorn sei die Tochter damals gewesen, und Rachedurst habe sie wohl auch gespürt, habe sie doch gesagt: „Diejenigen, die Dir das angetan haben, müssen bestraft werden.“ Als dieser Satz fiel, habe er gespürt, dass die Tochter in die Berge wolle – aber er habe das zu verhindern gewusst, sagt der Bürgermeister. Wie ihm das gelang, verrät er nicht. Doch wenn es bei der Tochter glückte, hätte sich der Sohn dann nicht auch zurückhalten lassen? Keinesfalls, beteuert der Vater. Es habe keinen anderen Ausweg gegeben. „Er ist wegen meiner Geschichte gegangen.“
Der siebte Versuch einer kurdischen Partei

Diese Geschichte, die Geschichte von Agits Vater, spielt vor allem in Gefängnissen und auf Anklagebänken. Abdullah Demirbas ist Mitglied der „Partei für Frieden und Demokratie“ (BDP), die fast ausschließlich von Kurden gewählt und nach der türkischen Parlamentswahl am Sonntag vermutlich mit einem neuen Rekordergebnis in das Parlament in Ankara einziehen wird. Sechs Vorgängerparteien wurden vom türkischen Verfassungsgericht wegen Unterstützung des terroristischen Separatismus verboten. Die BDP ist bereits der siebte Versuch der Kurden, mit einer politischen Partei, die allerdings unter starkem Einfluss der PKK und ihres auf Lebenszeit inhaftierten Führers Abdullah Öcalan steht, die Geschicke der Kurden zu lenken.

Als das oberste Wahlgremium der Türkei im April mit fadenscheinigen Begründungen einige BDP-Kandidaten von der Wahl ausschließen wollte, brach im Südosten des Landes ein Aufstand los, der sich beinahe in einen Flächenbrand verwandelt hätte. Nach wenigen Tagen lenkte das Wahlgremium ein und nahm die Entscheidung zurück. Die BDP hatte gesiegt.
Viele Kurden glaubten nie an die Politik

Abdullah Demirbas ist einer der populärsten Politiker der BDP. Bei den Kommunalwahlen im März 2009, zwei Monate vor der Abreise seines Sohnes, erhielt er 66 Prozent der Stimmen. Damals hatte die Partei noch einen anderen Namen. Sie hieß „Partei für eine demokratische Gesellschaft“, kurz DTP. Neun Monate später wurde sie vom Verfassungsgericht verboten, da sie Verbindungen zur PKK unterhalte und den kurdischen Separatismus unterstütze. Die kurdischen Politiker hatten das Verbot seit langem erwartet. Schon Stunden später entstand die BDP, deren Namen und Logo längst vorbereitet waren. Der DTP-Vorsitzende Ahmet Türk sagte nach dem Verbot der DTP: „Wir haben uns in der Politik betätigt, weil wir an ihre Macht glauben und das Parlament als den Ort ansehen, an dem Probleme gelöst werden können.“ Viele junge Kurden hatten diesen Glauben damals aber schon nicht mehr – wenn sie ihn denn je besaßen.

Abdullah Demirbas blieb in der Politik. Seine Popularität hat auch mit den vielen Gerichtsprozessen zu tun, die der türkische Staat gegen ihn führt. Sie haben ihn berühmt gemacht. Derzeit sind es 23. Geht es in allen Fällen nach dem Antrag der Staatsanwaltschaft, wird er am Ende zu einer Gefängnisstrafe von 178 Jahren verurteilt – immerhin 35 Jahre an erstinstanzlichen Urteilen hat er schon zusammen. Landesweite Aufmerksamkeit erregte ein Urteil des Obersten Verwaltungsgerichts im Juni 2007. Damals wurde Demirbas zeitweilig abgesetzt und der Gemeinderat von Sur aufgelöst. Das Vergehen des Bürgermeisters: Er hatte die Dienste seiner Verwaltung außer auf Türkisch auch auf Kurdisch angeboten, in der Sprache, die von einer Mehrheit seiner Wähler gesprochen wird. Mehr als 70 Prozent der Einwohner des Bezirks Sur bezeichnen Kurdisch als ihre Muttersprache. Für viele der Älteren ist es sogar die einzige Sprache, die sie verstehen.
Müllverordnung auf Türkisch und Kurdisch

Deshalb entschied der Stadtrat von Sur im Oktober 2006, Dienstleistungen künftig auch auf Kurdisch anzubieten – in der Türkei immer noch eine Provokation. Demirbas ließ eine Müllverordnung auf Türkisch und Kurdisch verbreiten. Türkische Nationalisten beschuldigten ihn daraufhin, er arbeite an der Spaltung des Landes. Demirbas bestreitet das vehement: Oftmals gehe es allein um Fragen der täglichen Verwaltung. Früher zum Beispiel habe man die Anweisung, wann und wo die Leute ihren Müll auf die Straße stellen sollen, allein auf Türkisch verbreitet.

Mit der Folge, dass viele Bürger nicht verstanden, was die Stadt von ihnen wollte. „Die Leute brachten ihren Müll auf die Straße, wann es ihnen passte, und die Müllabfuhr funktionierte schlecht.“ Das habe sich von Grund auf geändert, seit die Instruktionen auch auf Kurdisch verteilt werden. Und wer wollte behaupten, dass eine funktionierende Müllabfuhr die territoriale Integrität der Türkei untergrabe?

Andere Entscheidungen des Stadtrates haben allerdings weniger mit administrativer Alltagsarbeit und mehr mit Identitätspolitik zu tun, was Demirbas auch zugibt. So ließ er in einem Park von Sur ein Denkmal für einen zwölf Jahre alten Jungen errichten, der von Soldaten der türkischen Armee im „Kampf gegen den Terror“ erschossen wurde. Noch mehr brachte er die Justiz gegen sich auf, als er Tourismusprospekte und sogar Kinderbücher in kurdischer Sprache drucken ließ. Die Reaktion der Justiz zeige, dass sich in der Türkei auch in den Jahren unter Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan nur wenig getan habe, sagt Demirbas.
Erdogan sagt, es gebe kein kurdisches Problem mehri

Solche Aussagen kann man oft hören dieser Tage in Diyarbakir. Noch vor wenigen Jahren hielt Erdogan dort pathetische Reden und behauptete, dass das kurdische Problem auch sein Problem sei. Bei der Parlamentswahl 2007 dankten ihm das viele Kurden. Von einem türkischen Regierungschef waren sie solche Aussagen nicht gewohnt. Vier Jahre später wird sich das nicht wiederholen. Der Erdogan des Jahres 2011 spricht anders als der Erdogan von 2007.

Er behauptet, die Türkei habe kein kurdisches Problem mehr. „In diesem Wahlkampf haben Erdogan und seine Partei ihr wahres Gesicht gezeigt, wie alle anderen vorher. Viele türkische Politiker haben sich zeitweilig kurdenfreundlich gezeigt. Als Mesut Yilmaz Ministerpräsident war, sagte er, die Weg der Türkei in die EU führe über Diyarbakir. Als es dann um die Stimmen der nationalistischen Wähler ging, waren solche Aussagen aber schnell wieder vergessen“, sagt Abdullah Demirbas.
BDP strebt neue Verfassung für die Türkei an

Erdogan sei als Gegner des Kemalismus angetreten, doch inzwischen habe er immer mehr von der alten Staatsideologie übernommen. Das Ziel der BDP im neuen Parlament ist es daher, eine verfassungsändernde Mehrheit für Erdogans „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“ (AKP) zu verhindern. Auch die BDP strebt zwar die Verabschiedung einer neuen, demokratischen Verfassung für die Türkei an. Sie will aber, dass die AKP sich dabei mit anderen Parteien abstimmen muss. Sollte die AKP im neuen Parlament die alleinige Mehrheit zur Verabschiedung einer Verfassung erlangen, werde das Resultat nämlich alles andere als fortschrittlich sein. Demirbas und die anderen kurdischen Politiker fordern unter anderem kurdischsprachigen Schulunterricht von der ersten bis zur letzten Klasse, die Stärkung der lokalen Selbstverwaltung sowie eine Generalamnestie für PKK-Kämpfer.

Die letzte Forderung liegt Abdullah Demirbas besonders am Herzen. Schließlich geht es dabei auch um den eigenen Sohn. Angst davor, öffentlich über dessen PKK-Mitgliedschaft zu sprechen, habe er nicht mehr, sagt der Bürgermeister. „Wenn das eigene Kind da draußen ist, wovor soll man sich dann noch fürchten?“ – „Haben Sie denn die Hoffnung, dass Sie ihren Sohn wiedersehen werden?“ Der Bürgermeister schweigt einige Sekunden, dann sagt er: „Meine Hoffnung ist, dass es Frieden gibt.“

Quelle : http://www.faz.net/artikel....41.html

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